Verwilderte Hauskatzen oder „feral cats“ (Felis catus L.) bewohnen verschiedene Lebensräume in städtischen und ländlichen Regionen, wobei sie selbständig ohne individuelle menschliche Betreuung leben und sich vermehren. Ihre Lebensweise ähnelt der vergleichbarer Wildtiere.
Die Anwesenheit und besonders das hohe Vermehrungspotential verwilderter Katzen bringen in der Nachbarschaft des Menschen eine Reihe von Problemen mit sich. Bei hoher Populationsdichte kommt es zu erhöhter Verbreitung von Krankheiten (besonders Katzenschnupfen, Katzenseuche, und Parasiten), Nahrungsmangel, Mangel an geeigneten Ruheplätzen, verstärkten Kämpfen zwischen den Tieren und zum Abdrängen der schwächeren Tiere. Darunter leiden dann die Katzen selbst und werden damit zum Tierschutz-Problem. Durch das kranke oder ungepflegte Aussehen und die hohe Anzahl der Tiere fühlen sich Anwohner durch verwilderte Katzen belästigt. Ein zusätzliches Problem ist der Jagddruck von verwilderten, aber auch anderen Katzen auf ihre Beutetiere, besonders auf Kleinvögel, Bodenbrüter, Kleinsäuger und Reptilien. Daher ist eine Populationskontrolle der verwilderten Katzen notwendig.
Zur Populationskontrolle wurden und werden unterschiedliche Methoden praktiziert. Über Jahrhunderte war es üblich, überzählige Jungtiere oder auch erwachsene Katzen zu töten. Die Tötung von Tieren ohne vernünftigen Grund (z.B. unheilbare Krankheit des Tieres) wird jedoch von den meisten Menschen abgelehnt und ist gesetzlich verboten. Statt dessen werden Methoden gesucht, welche die notwendige Populationskontrolle ethisch vertretbar und tierschutzgerecht ermöglichen. Dabei hat sich seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Verringerung der Reproduktionsrate als bevorzugte Methode zur Populationskontrolle durchgesetzt. Verwilderte Katzen werden eingefangen, chirurgisch kastriert und danach in ihren Lebensraum zurückgebracht. Sie sollen dort ihre Territorien besetzt halten („Platzhalter“) und die Zuwanderung fremder, unkastrierter Katzen verhindern (HAMMOND 1981, TABOR 1995). Dies ist allerdings nur eine Theorie, in der Regel gibt es weder eine vorherige Erfassung noch eine Erfolgskontrolle. In Berlin bleiben die Kastrationszahlen seit Jahren stabil, was auf eine anhaltend hohe Populationsdichte hinweist und die Effektivität der verwendeten Methode in Frage stellt.
Um die Situation in Berlin zu klären, wurde in einem typischen Gebiet der Berliner Innenstadt (45 ha) die Situation der dort lebenden verwilderten Katzen untersucht, wobei Populationsdichte, Reproduktions- und Mortalitätsrate, Ursachen der Tierverluste, Nahrungssituation, Verwandtschaftsbeziehungen und Raumnutzung der Tiere ermittelt wurden. Nach einer Phase deskriptiver Erfassung von zwei Jahren wurden alle weiblichen Katzen einer Teilpopulation kastriert, um den Effekt dieser Maßnahme auf das Verhalten der Einzeltiere und auf die Populationsdynamik der Teilpopulation zu prüfen.
Verschiedene Untersuchungsmethoden wurden verwendet und miteinander kombiniert, um ein möglichst vollständiges Bild der Situation zu erhalten. Eingesetzt wurden eine PC-gesteuerte Fütterungs- und Fangeinrichtung (Catbox), die permanent mittels Langzeit-Videorekorder überwacht wurde, tägliche Kontrollgänge durch das Untersuchungsgebiet, Funkortung ausgewählter Tiere, Mitochondrien-DNA-Analyse zur Ermittlung der Verwandtschaftbeziehungen, Kern-DNA-Analyse zur Ermittlung des individuellen Reproduktionserfolges der Einzeltiere, veterinärmedizinische Untersuchungen und die Methode der chirurgischen Kastration.
Im Untersuchungsgebiet wurden 13 Futterstellen festgestellt, die von Anwohnern speziell für bestimmte oder für beliebige verwilderte Katzen angeboten wurden. Die Dichte war so hoch, dass alle Tiere die Möglichkeit hatten, in kurzer Zeit mehrere Futterstellen aufzusuchen. Mehrfach boten Anwohner zusätzliches Futter an, nachdem eine Katze zuwanderte. Futter stellt also für die Katzen im Untersuchungsgebiet keinen limitierenden Faktor dar. Ähnlich reichhaltige Futterangebote für verwilderte Katzen wurden in anderen Städten nachgewiesen (HASPEL 1986, NATOLI 1985, TABOR 1995).
Im Untersuchungsgebiet wurden von 1996 bis 2000 insgesamt 75 verwilderte Katzen nachgewiesen. Gleichzeitig lebten im Gebiet zwischen 20 und 30, maximal 32 Tiere. Dazu kamen zwei Wohnungskatzen mit gelegentlichem Freigang und bis zu 10 Durchzügler pro Jahr (insgesamt 23 Tiere, 3-10 Tiere pro Jahr, durchschnittlich 0,6 Tiere pro Monat).
Die genetisch untersuchten 28 Katzen gehörten sechs verschiedenen maternalen Verwandtschaftslinien an. Drei davon wurden jeweils nur von einem einzigen Tier vertreten, alle drei Tiere waren während der Untersuchungszeit in das Gebiet eingewandert. Zwei Haplotypen mit großer genetischer Distanz waren besonders häufig, beide umfassten mehrere Tiere von unterschiedlichem Alter und Geschlecht. Die letzte Verwandtschaftslinie umfasste ausschließlich eine weibliche Katze und ihre während der Untersuchungszeit geborenen Nachkommen.
Die genetische Vielfalt der untersuchten Katzen entsprach der von wilden Felidenarten (MENOTTI-Raymond & O’BRIEN 1995). Der Verdacht, dass die verwilderten Berliner Katzen verstärkt unter Inzuchterscheinungen litten, konnte damit widerlegt werden.
Die ansässigen Katzen des Untersuchungsgebietes lebten in zwei genetisch getrennten Teilpopulationen. Obwohl dazwischen keinerlei Barriere bestand, war der Genfluss zwischen den Teilpopulationen sehr gering und entsprach dem von genetisch getrennten Wildtierpopulationen (FICKEL et al. 1999).
Die Weibchen und Jungtiere der beiden Teilpopulationen zeigten in ihrer Raumnutzung eine deutliche Trennung. Die Streifgebiete der weiblichen Katzen aus unterschiedlichen Teilpopulationen überlappten nicht, dagegen überlappten die Streifgebiete von Weibchen derselben Teilpopulation bis zu 90 %. Die adulten Kater dagegen nutzten teilweise die Gebiete beider Teilpopulationen.
Die beiden Teilpopulationen unterschieden sich deutlich in Bezug auf den Anteil kastrierter Tiere, die Altersstruktur, den Gesundheitsstatus und die Populationsdichte. In Teilpopulation 1 waren vor Beginn der Studie etwa zwei Drittel der adulten Tiere im Rahmen von Tierschutz-Aktionen kastriert worden, in Teilpopulation 2 dagegen waren alle adulten Weibchen und zwei Drittel der Kater unkastriert. Es konnten keine Unterschiede hinsichtlich der Struktur des Untersuchungsgebietes, der Verfügbarkeit von Futter oder von Verstecken ermittelt werden. Ursache der Unterschiede zwischen beiden Teilpopulationen waren vielmehr verschiedene Strategien der Betreuer bezüglich der Populationskontrolle und der Fütterungs-Methodik.
Als Folge der unterschiedlichen Reproduktionsraten lag das Durchschnittsalter in Teilpopulation 1 bei 7,1 Jahren, das in Teilpopulation 2 dagegen bei 2,4 Jahren. Die Populationsdichte betrug 0,83 Katzen je ha in Teilpopulation 1 und 1,20 Katzen je ha in Teilpopulation 2. In Teilpopulation 2 wurden erkennbar kranke Katzen häufiger beobachtet als in Teilpopulation 1, auch die krankheitsbedingte Mortalität war höher.
Die durchschnittliche Populationsdichte lag mit ca. 1 Katze je ha (bei Ausschluss ungeeigneter Bereiche wie Hauptstraßen) im Vergleich zu Literaturdaten aus anderen Untersuchungen in Städten relativ niedrig, z.B. fand NATOLI (1985) bis zu 20 Katzen je ha. Besonders in Teilpopulation 2 wurden jedoch lokal hohe Populationsdichten bis zu 8 Katzen je ha beobachtet.
Die Streifgebiete der Katzen waren im Vergleich zu Literaturangaben relativ klein und lagen zwischen 0,5 und 5 ha (Katzen, kastrierte Kater, Jungtiere), und 20 bis maximal 66 ha (reproduktive Kater). Die Größen der Streifgebiete unterschieden sich signifikant zwischen unkastrierten adulten Katern und allen anderen Tieren.
Die Reproduktionsrate lag wesentlich niedriger als erwartet und in der Literatur angegeben. Während nach Literaturangaben und Aussagen von Tierschutzorganisationen bei verwilderten weiblichen Katzen jährlich zwei oder sogar drei Würfe mit Wurfgrößen bis zu acht Kätzchen vorkommen sollten (OLSON & JOHNSTON 1993, PASSANISI & MACDONALD 1990, UFAW 1995, WARNER 1985), wurden im Untersuchungsgebiet maximal 4, durchschnittlich 2,3 Jungtiere pro Weibchen und Jahr aufgezogen. Alle fertilen Weibchen wurden mindestens einmal im Jahr trächtig, zwischen lokaler Populationsdichte und Wurfgröße bestand keinerlei Korrelation.
Es wurde nachgewiesen, dass bei Verlust des ersten Wurfes meist später im Jahr ein zweiter Wurf geboren wird, was auch mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen übereinstimmt (LINDZEY et al. 1994). Dieses Ergebnis lässt am Sinn der möglichst frühen Jungtierwegnahme und -vermittlung zweifeln, wie sie oft vom Tierschutz bevorzugt wird. Zwar lassen sich kleine Jungtiere leichter an Interessenten vermitteln und werden mit höherer Wahrscheinlichkeit zahm als ältere, jedoch kann das dazu führen, dass die Katze in dem betreffenden Jahr einen zweiten Wurf aufzieht, so dass man durch diese Maßnahme die Zahl der geborenen Jungtiere und damit letztlich die Katzenzahl erhöht.
Der Reproduktionserfolg der getesteten Kater im Untersuchungsgebiet war signifikant unterschiedlich. Von den untersuchten 31 Nachkommen (17 Feten aus 4 Würfen, 14 Jungtiere im Alter > 8 Wochen aus 5 Würfen) konnten mittels DNA-Analyse 25 Nachkommen 3 der untersuchten 5 adulten fertilen Kater zugeordnet werden. Die anderen zwei Kater hatten, ebenso die neun jungen Kater im Alter bis zu vier Jahren, in der fraglichen Zeit keine Nachkommen im Untersuchungsgebiet. Die übrigen 6 Nachkommen hatten mindestens 4 unbekannte Väter. Der Reproduktionserfolg der reproduktiven Kater im Untersuchungsgebiet lag zwischen einem Nachkommen in einem Wurf und 15 Nachkommen in 4 Würfen. Jeder Kater hatte während der Untersuchungszeit nur in einem Jahr Nachkommen, jeder Wurf einer weiblichen Katze hatte einen anderen Vater. In zwei der neun Würfe stammte je ein Jungtier von einem anderen Kater ab als die übrigen.
Wurden ansässige reproduktive Kater kastriert, so hatte dies keinerlei Einfluss auf die Reproduktionsrate der Population. Die vakanten Gebiete wurden in kürzester Zeit durch zuwandernde oder zwischen verschiedenen Gebieten pendelnde Kater ersetzt.
Die Mortalität der Jungtiere betrug 50 % während ihres ersten Lebensjahres, die der adulten ansässigen Tiere 16 % pro Jahr. Verlustursachen waren hauptsächlich Unfälle (Straßenverkehr, Hunde) und Krankheiten (Lungenentzündung, Katzenschnupfen).
Die Kastration weiblicher Katzen führte zu einer leichten Gewichtszunahme. Kastrierte Katzen nutzten im Durchschnitt geringfügig kleinere Streifgebiete als unkastrierte, die Nutzung von Schlafplätzen und Futterstellen veränderte sich nicht. Veränderungen im Sozialverhalten konnten nicht festgestellt werden. Auch im Verhalten der anderen Tiere gegenüber den kastrierten Katzen wurde kein Unterschied festgestellt. Es konnte auch kein Einfluss auf die ansässigen fertilen Kater nachgewiesen werden. Weder wanderten Kater ab, noch wurden Verhaltensänderungen beobachtet.
Nach Kastration aller weiblichen Katzen einer Teilpopulation nahm die Zuwanderung fremder Tiere in das Gebiet signifikant zu. Trotzdem sank die Populationsdichte innerhalb von zwei Jahren von 15 Katzen (0,8 Tiere je ha) in Teilpopulation 1 auf nur noch 8 Katzen (0,4 Tiere je ha). Der Unterschied war nicht signifikant, jedoch wurde im vergleichbaren Zeitraum Frühjahr 1996 (15 ansässige Katzen) gegenüber 1997 (16 ansässige Katzen) keine vergleichbare Verringerung der Populationsdichte beobachtet. Bis September 2000 wurden im Untersuchungsgebiet kein erneuter Anstieg der Populationsdichte und keine Jungtiere festgestellt.
Die Reproduktionskontrolle der verwilderten Katzen durch Kastration ist durchaus erfolgreich. Die (sehr häufige) Kastration von Katern allerdings ist zwar insofern sinnvoll, als lautstarke Katerkämpfe ein Ärgernis für Anwohner darstellen, beeinflusst aber die Reproduktionsrate und Populationsdichte der Katzen nicht. Der Anteil durch Tierschutz-Aktionen kastrierter Tiere reicht bisher nicht aus, um die Anzahl der verwilderten Katzen konstant zu halten oder sogar zu senken. Um eine höhere Effektivität zu erreichen, sind verbesserte Fangmethoden und stärkere Konzentration auf weibliche Katzen erforderlich.
Die vollständige Arbeit kann als PDF abgerufen werden.
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